Zwischenräume
Die verborgenen Schauplätze der Wirklichkeit
„zwischenräumlich denken und (er)leben“
Maria Reinecke
(Auszug aus dem Vortrag in Dortmund: DASA - Szenografie; Zwischenräume-Kolloquium 2012)
Veröffentlichung im KLARTEXT VERLAG, Januar 2014:
Teil I
Zwischenräume: Spalten, Ritzen, Lücken,
Löcher, Poren, Zwischenräume überall; sie sind da, ohne eigentlich etwas zu
sein; sie befinden sich zwischen den Dingen, liegen angrenzend, verbindend
zwischen Festem, Greifbarem, Sichtbarem, Messbarem, doch sie selber sind
flüchtig, vage, unsichtbar, undefiniert, leer, leere Räume, weiter nichts. Es
geht also um nichts? Ist die Beschäftigung mit Zwischenräumen ein ähnlich absurdes Unterfangen, wie das des Architekten, der in dem humorigen Lattenzaun-Gedicht von Christian Morgenstern alle Zwischenräume herausnimmt, um aus ihnen ein großes Haus zu bauen?
Oder: Was macht ein Rad eigentlich
zum Rad?, fragt der legendäre Laotse und stellt fest: es sind die leeren Räume
zwischen den Speichen, die wesentlich konstitutiv für das Rad sind; so gesehen
gewinnen die Zwischenräume im Lattenzaun sogar eine gewisse Bedeutung: wird
dieser doch auch erst durch die leeren Räume zwischen den Latten zu dem, was er
ist.
Bleiben wir bei dem Bild: Zwischenräume herausnehmen. Der moderne
Physiker stellt eine ähnlich merkwürdige Arbeitshypothese auf, indem er zu bedenken gibt, was passieren würde,
wenn wir aus unserem Planeten alle Zwischenräume herausnähmen: es bliebe nur
ein kleiner ultrakompakter Masseklumpen zurück, etwa so groß wie ein Golfball,
der jedoch dieselbe Masse hätte wie die ganze Erde zuvor in Großformat. Uns
selber würde es nicht viel besser ergehen, denn wir bestehen zu 99,9 % aus
leeren Räumen; nähme man alle Zwischenräume aus uns heraus, würden wir im
Nanometerbereich verschwinden.
Gemeint sind hier die leeren Räume in atomaren
Strukturen; und wieder sind es die leeren Räume, diesmal zwischen Atomkern und Elektronenhülle, die
die Atome erst zu dem machen, was sie sind. Ein einfaches Wasserstoffatom z.B.
besteht aus einem Kern mit einem positiv geladenen Teilchen, dem Proton, das
die Masse des Atoms ausmacht, und einem negativ geladenen Teilchen, dem Elektron, das wie eine Ladungswolke um den
Kern herum rast. Um die Dimensionen in einem Atom zu veranschaulichen,
vergrößern wir den Atomkern gedanklich 1billionenfach auf die Größe eines
Stecknadelkopfes: dann hätte das Atom die Ausdehnung eines Fußballplatzes,
und der ganze Raum zwischen dem Kern und
der Elektronenhülle wäre leer. Wobei leer nicht nichts ist: elektromagnetische
Kräfte und die starke und schwache Kernkraft sorgen heftigst dafür, dass das atomare Gefüge nicht
kollabiert, die subatomaren Teilchen ineinander umgewandelt werden können und
das Vakuum zwischen Kern und Elektronenhülle erhalten und elektrisch neutral
bleibt. Ohne diese physikalischen Grundkräfte, zu denen auch die
Gravitation gehört, würden die atomaren Strukturen der Erde
tatsächlich in sich zusammenfallen, und es blieben nur die Atomkerne
zurück, also reine Masse, ein Klumpen so groß wie ein Golfball.
Kein Zweifel: Die Zwischenräume und was in ihnen und
um sie herum geschieht sind offenbar von grundlegender Wichtigkeit und
Voraussetzung für alles Bestehende. Ohne sie gäbe es keinerlei Aktivität, kein Werden, kein Wachsen, keine Bewegung,
kein Leben. Es gäbe uns nicht, die Natur nicht, die Welt nicht, das Universum
nicht, denn auch das besteht zu 75 % aus leerem Raum, wobei auch hier leer nicht einfach nichts ist:
Gravitationsfelder, elektromagnetische Felder und Wellen, Energieströme
unaufhörlicher Aktivität durchziehen das All.
Mollie Hosmer-Dillard, Collecting Burdock and Vetiver oder Im Werden,
2009, Öl auf Leinwand 80 x 100 cm.*)
Die modernen interdisziplinären Wissenschaften zeigen
uns insgesamt eine im Innersten
durch und durch poröse, filigranst miteinander
verbundene, in ständiger Bewegung und Veränderung befindliche Welt und verweisen auf
einen umfassenden interaktiven Wirkzusammenhang; auf ein grenzenloses,
wechselseitig sich bewirkendes Energie-Beziehungsgeflecht, in dem kein Ding,
kein Geschehnis allein-isoliert, ohne
Rückwirkung auf das Ganze daherkommt.
Einst wurden das „ewige“ Eis in der Antarktis und das „ewige“ Gebirgsgestein als tote Materie
abgetan; heute wissen wir, dass im Innern scheinbar unveränderlicher Materie
höchst beunruhigende Prozesse ablaufen, sichtbar und unsichtbar, in und
zwischen kleinsten Zellstrukturen bis in die molekularen und atomaren
Bereiche hinein, mit unabsehbaren Folgen
und Auswirkungen auf die ganze Erde.
Der englische Mathematiker, Naturwissenschaftler und
Philosoph Alfred N. Whitehead (1861-1947), der erst spät aufgrund seiner
naturwissenschaftlichen Arbeiten zum Philosophen wurde, hat die Wirkzusammenhänge zwischen
anorganischen, organischen und im weitesten Sinne biologischen Strukturen als
solche gesehen und sie als einen umfassenden dynamischen, organismischen
Prozess der Wirklichkeit interpretiert. Whitehead ist der erste, der die leeren
Räume in lebenden Strukturen als Zwischenräume (interstices) bezeichnet
und ihnen eine grundlegende Bedeutung beimisst, indem er sie mit der
physikalischen Feldtheorie*) und den Wechselwirkungen des elektromagnetischen
Feldes in leeren Räumen in Zusammenhang bringt.
*)Physikalische Feldtheorien bilden den mathematischen Unterbau zur Beschreibung physikalischer Effekte, die durch Kräfte und Wechselwirkungen hervorgerufen werden.
*)Physikalische Feldtheorien bilden den mathematischen Unterbau zur Beschreibung physikalischer Effekte, die durch Kräfte und Wechselwirkungen hervorgerufen werden.
Bereits 1929 schreibt Whitehead in seinem Hauptwerk Prozess
und Realität den bislang kaum beachteten Satz: „Das Leben liegt in den Zwischenräumen jeder
lebenden Zelle und in den Zwischenräumen des Gehirns verborgen“(1),
und er meint das nicht metaphorisch, sondern wirklich.
Whitehead sieht die einzelne lebende Zelle als ein
komplexes physikalisches Feld, das durch Moleküle, Atome und Elektronen besetzt
ist. Zwischen den besetzten Raum-Zeit-Stellen befinden sich leere Räume voller
virtueller Energie; denn leer bedeutet
nur: frei von Elektronen, Protonen oder irgendeiner
Form elektrischer Ladung. Damit die virtuellen
Energieströme in dem physikalischen Feld des leeren Raumes zu wirklichen Geschehnissen
werden können, bedarf es der Einflüsse
angrenzender besetzter Räume (Moleküle, Atome,
Elektronen), denn physikalische Felder werden erst verständlich durch
die Einflüsse, die auf sie wirken. Je
nach Resonanz und Einflüssen aus der
Umgebung also gehen die virtuellen Energieströme in einen spontanen
Konkretisierungsprozess ein oder nicht. Das Leben wirkt dabei wie ein
Katalysator; es wird zu einem Charakteristikum des leeren Raumes mit
der kreativen Funktion, Neuheit zu erzeugen; aus Potenzialität Wirklichkeit
entstehen zu lassen. In den Zwischenräumen finden die eigentlichen Prozesse des Lebens statt - so Whitehead.
Kühne Gedanken.
Kühnheit
ist bei der Erforschung von Zwischenräumen in der Tat erforderlich - darauf
machen auch Albert Einstein und Leopold Infeld in ihrem Buch Die
Evolution der Physik aufmerksam; sie betonen darin: angesichts der Erkenntnisse der modernen
Physik, in der es nicht mehr um das Verhalten von Körpern gehe, sondern um das
zwischen ihnen Liegende, bedürfe es großer gedanklicher Kühnheit anzuerkennen,
dass „das Verhalten des Feldes (im Dazwischen, M.R.) für die Ordnung und
das Verständnis der Vorgänge maßgebend
sein könnte“.(2)
An Kühnheit scheint es im tendenziell positivistischen
Wissenschaftsbetrieb eher zu mangeln. Was genau in den leeren Zwischenräumen
lebender Organismen geschieht, ist noch immer weitgehend unerforscht. Nur
zögerlich werden Vakuumstrukturen in ihrer
grundlegenden biologischen Bedeutung überhaupt gesehen und als eigentliche
Basis für die interdisziplinäre Forschung der Biophysik anerkannt.
Der Mensch ist ein Zwischenwesen
Bele Weitzmann, Begegnung, 1987, Amsterdam, Acrylgemälde
180 x 100 cm.*)
Wir können sagen: Der Mensch ist ein Zwischenwesen; er steht zwischen Makro- und Mikrokosmos und bildet eine Art Schnittstelle, biologische Datenübertragungsgrenze zwischen Materie und Geist/Bewusstsein. Unsere Körperzellen bestehen letztlich aus winzigen Elementen unbelebter Materie; eine Million Trillionen Atome tummeln sich allein in einer Fingerspitze; in unserem Körper findet ein ständiger Molekül- und Zellaustausch statt: zehn Millionen Zellen pro Sekunde vergehen und entstehen neu. Zoomen wir in unseren Körper hinein, durch die poröse Haut hindurch, sehen wir unseren Organismus als ein pulsierendes, feinst zusammenhängendes, zusammenwirkendes System; die Organe funktionieren im Zusammenspiel von Gewebe; das Gewebe besteht aus Zellzusammenhängen; die einzelnen Zellen aus Organellen, die wiederum werden durch das Zusammenwirken von großen und kleinen Molekülen organisiert; und wenn wir weiter zoomen, entdecken wir in den Molekülen Atome, und in der Mitte der Atome die Atomkerne, die sich immer weiter in subatomare Einheiten verflüchtigen. Die Frage also: inwieweit und wie mikrokosmische Prozesse physisch, psychisch und mental auf uns einwirken, ist durchaus von Bedeutung für uns; ebenso makrokosmische Prozesse: welche Wirkungen haben all die Schwingungen, Wellen, Frequenzen, elektromagnetischen Kräfte, Energie- und Teilchenströme, Strahlungen, die uns von allen Seiten ständig „bombardieren“?
Ein Kaleidoskop an 'zwischenräumlichen' Fragen taucht auf, z.B.: Was hat es auf sich mit der Wetterfühligkeit und den körpereigenen elektromagnetischen Feldern und den biologischen Wirkungen elektromagnetischer Felder? Haben unsere heimlichen Gedanken und Wünsche tatsächlich (elektrische) Wirkung auf Personen und Situationen? Was hat es auf sich mit den spezifischen Schwingungsspektren einzelner Organe und Zellen und den emotionalen Chemikalien in unserem Organismus? Können wir die Aura eines Menschen wirklich sehen und fühlen? Gibt es vierzigtausend echte Gehirnzellen in unserem Herzen?... Und in Zusammenhang mit dem Szenografie-Kolloquium über den Raum kann gefragt werden: Wie entsteht eigentlich das Atmosphärische, wenn Menschen und Dinge in einer gemeinsamen ästhetischen Wirklichkeit verbunden sind und das je subjektive Empfinden nicht von der zufälligen eigenen Befindlichkeit abhängt, sondern von dem objektiv im Raum Da- seienden erfasst wird? ... Fragen, die von Einzeldisziplinen wissenschaftlicher Grenzgebiete oder/und esoterischen Kreisen intensiv erforscht werden. Eine Flut von Informationen überschwemmt den medialen Markt, per Mausklick abrufbar. Für den interessierten Laien ist es oft nicht leicht, zwischen fundiertem Bildungsangebot und (ideologisch) vereinnahmendem Material oder möglichem Humbug zu unterscheiden.
So bleiben die Zwischenräume weitgehend Rätsel und Geheimnis. Der Biologe
und Hirnforscher Gerhard
Roth z.B. räumt ein, dass man zwar schon „ziemlich gut die Vorgänge auf der
zellulären und molekularen Ebene“ der aktiven Gehirnzentren verstünde, dass
„das größte Rätsel (ist) aber das Geschehen dazwischen“ sei.(3) Und
für den Hirnforscher Antonio Damasio liegt das „Geheimnis“ des Bewusstseins gerade
in der Interaktion neuronaler und chemischer Signale, die sich zwischen den
Zellen und den Hirnregionen abspielen.(4) Auch wenn der Neurowissenschaftler Joseph
LeDoux provokant konstatiert: „Wir sind unsere Synapsen“, was soviel heißt wie:
„Wir sind die Zwischenräume“ - denn die Synapsen sind die Zwischenräume
zwischen den Hirnzellen, durch die diese Zellen kommunizieren - wissen wir noch
lange nicht, was genau in den Synapsen geschieht, damit wir uns als Selbst
empfinden können. Das Rätsel bleibt also.(5)
Zwischenräume sind mehr als nur Metapher
Als Metapher sind die Zwischenräume längst im XXI. Jahrhundert angekommen; sie sind geradezu zur Signatur unserer Zeit geworden. Das Hybride, Interferierende, Intermediäre findet sich in den verschiedensten Kulturbereichen. Zwischenräume stehen für Vages, Verschwommenes, Grenzüberschreitendes, Entgrenzendes ebenso wie für Unergründliches, Unbekanntes, Unheimliches, Verführerisches, Ansteckendes, Gefährliches - gemäß Bernhard Dotzler und Henning Schmidgen, Humboldt Universität Berlin.(6) Jugendliche nutzen die neuen digitalen Zwischenwelten als Anreiz für ihre schrill-schillernden, kontrastierenden Moderichtungen, Stile und Lebensentwürfe, „um sich selbst zu inszenieren, um das eigene Ich zu dehnen", schreibt Michael Meier in seinem Buch Neue Menschen.(7) Zwischenräume sind die allgemein erklärten kreativen Freiräume „für neue Ideen und Bedeutungen in den Künsten, in der Architektur, Literatur, Musik, Film, Tanz ebenso wie in Psychotherapie und der spirituellen Lebensberatung“, sagen Dariusz Radtke und Hagen Schulz-Forberg, Forum 46.(8)
Die Zwischenräume
sind in diesem Jahr auch Anlass für unser Zusammentreffen hier in
Dortmund und stehen als Metapher für Wandel und Übergang. Zwischenräumlich gesehen, sind die
Zwischenräume mehr als Metapher; sie stehen nicht bloß für Wandel und Übergang:
sie sind die wirklichen Ereignisräume, in denen Wandel und Übergang sich
überhaupt vollziehen können.
Teil II
Als ich 1993 die Zwischenräume in A. N. Whiteheads Prozessphilosophie (Prozess und Realität, a.a.O. 1)
als konkrete „Wirk-Räume“ entdeckte und diesen
Gedanken literarisch umzusetzen versuchte, fühlte ich mich ziemlich allein
mit diesen Zwischenräumen. Kein Mensch interessierte sich damals dafür. Ich war aber gar nicht so alleine: kurz zuvor hatte der Suhrkampverlag
ein Büchlein herausgegeben mit dem
Titel: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen: ein Zitat von Peter Handke im Gespräch mit
Herbert Gamper. (9)
Handke sieht die Zwischenräume auch als
Metapher und Ausgangssituation für den kreativen Akt, lässt aber darüber hinaus
etwas Zwischenräumlich- Wirkliches in ihnen anklingen. Er spricht von der inspirierenden
anfänglichen Leere, einer fruchtbaren Leere, und von
einer Schwingung in dieser Leere, die das Erzählen überhaupt erst möglich
macht. Die Zwischenräume als eine Art „Wert-Vakuum“, ein Auftun der
Leere z.B. inmitten von Menschenmassen; er beschreibt das so:
"...Es ging mir einmal so auf dem Markusplatz in
Venedig: Wenn man da geradeaus vor sich hinschaut... wird man ja
taumelig vor Körpern oder vor Ununterscheidbarem... Und mit dem Blick auf den
Boden, mit den Füßen der Gehenden und Stehenden, wurde mir auf einmal bewusst,
wie viel Leere da noch übrig ist... soviel Platz... und aus dem seltsam leeren
Boden entstanden dann die Gestalten erst... Und es ist kein größerer Moment an
Zuneigung vorstellbar als in diesem Aufsteigen der Leere..." (a.a.O.)
Und Wir? Was machen wir mit den
Zwischenräumen? Wir benötigen auch Kühnheit, wenn wir die Zwischenräume ernst
nehmen und uns in sie hineinbegeben wollen. Die Vorstellung, dass nicht die
Dinge, sondern das dazwischen sich Ereignende wichtig sein soll, ist uns fremd.
Wie wir denken, so leben wir. Wir sind gewohnt, „dinghaft“ zu denken,
realistisch eben (res, lat. - das Ding, die Sache); wir definieren
Realität selbstverständlich als etwas,
was wir an festen, eindeutig lokalisierbaren, quantifizierbaren Körpern,
Dingen, Entitäten vorfinden und richten unser Leben darin ein. Die grundlegende
Subjekt-Objekt-Struktur unserer Sprache, die unser ganzes Denken prägt, legt
eine solche Vorstellung nahe. Der Satz: „Ich sehe den Baum“ drückt von
vornherein eine statische einseitige Beziehung zwischen mir und dem Baum aus: Ich als aktives,
sehendes Subjekt stehe dem Baum als
einem rein passiven Objekt getrennt, unabhängig, distanziert gegenüber. Er ist für mich eine Sache, die weiter nichts mit mir zu tun
hat; die ich höchstens für meine Zwecke gebrauchen kann.
Zwischenräumlich gesehen jedoch, wird aus
der statischen Subjekt-Objekt-Beziehung ein dynamischer symmetrischer
Wirkzusammenhang zwischen mir und dem Baum. Der Baum bleibt dabei nicht
passives Objekt, sondern bietet sich aktivisch meinem Blick dar, zeigt sich mir
in seiner ganzen Fülle; er sendet seine
spezifischen Signale aus, die auf meinen Wahrnehmungsapparat wirken und
wesentlich dazu beitragen, dass und wie ich ihn wahrnehme; und diese
Wahrnehmung hinterlässt Spuren in meinem System, verändert mich. Was sich
zwischen mir und dem Baum an diesem Ort, in diesem Augenblick vollzieht, ist ein Stück Wirklichkeit,
verwoben, eingebunden in ein grenzenloses Netz von unzähligen anderen
gleichzeitigen Geschehnissen in nächster Nähe und weitester Entfernung: da ist
der warme Lichteinfall der Sonne, das
Summen der Insekten, das Duften der Blüten, die Nähe eines Waldes,
Autobahngeräusche im Hintergrund,
aufkommende Wolken, der sich verdunkelnde
Himmel usw.: Schwingungen, Wellen, Frequenzen, Energie-Strömungen
vielfältigster Art hüllen mich und den Baum ein, nehmen uns hinein in einen
umfassenden Wirk-Zusammenhang, in dem ich als Subjekt nicht mehr die Hauptrolle spiele.
Textstelle aus Leben
in den Zwischenräumen, Roman, M.R.(10)
„Ihr Tod bedeutete für sie auf jeden Fall den
Verlust all dessen, was war, den Verlust der Wirklichkeit. Unausdenkbar,
grauenvoll. Denn die Wirklichkeit umfasste alles, was sie liebte, alles, was für sie
einen Wert hatte; die Wirklichkeit war
das kostbare Datum, das sie in jedem
Augenblick durchdrang, durch das sie mit der Welt verbunden war, das ihre
Empfindungen schuf; und ihre Empfindungen waren, was sie waren, damit sie sein konnte,
was sie war. Ja, sie liebte die Wirklichkeit.“ (a.a.O.)
Wirklichkeit beinhaltet das aktivische Wort
„wirken“; Wirklichkeit wirkt, bewirkt,
zeigt Wirkung, ereignet sich im Dazwischen, zwischen mir und den Dingen,
zwischen mir und den anderen, zwischen mir und der Welt. Die Wirklichkeit ist
mehr als bloße Realität; sie hält eine weitere Dimension des Erlebens bereit; zielt auf Intensität, Qualität.
Leben heißt erleben. Wir haben weitgehend verlernt, das Geschehen im
Dazwischen als Wirklichkeit wahrzunehmen und in dieser Wirklichkeit zu leben, sie
zu erleben; wir funktionieren, müssen funktionieren. Die Realitäten des Lebens
müssen bewältigt werden, beruflich und privat, jeden Tag neu, mit lückenlos
aneinandergereihten Terminen, Pflichten, Verpflichtungen, die Tyrannei eines
gleichgültig-erbarmungslos vorrückenden Uhrzeigers im Nacken. Das Zeitfenster
für Freiräume wird immer enger; haben wir frei, geht es wie am Schnürchen
weiter; wir rennen von event zu event, vom Fitness zum Brunch, von date zu date, bis wir irgendwann
nicht mehr können. Der Zusammenhang ist verloren gegangen, manchmal auch der
Sinn. Wir spüren uns und den anderen schon lange nicht mehr, haben kaum Kraft
zum Atmen. Das Leben hat plötzlich seinen Geschmack verloren, ist fade
geworden. Dann möchten wir das Rad anhalten, den mechanischen Ablauf der Dinge
unterbrechen; möchten eintauchen in den
Augenblick, der immerzu vor uns wie nichts zerrinnt, möchten eine Weile
verharren, uns und das Leben wieder richtig spüren, schmecken, wie einst als Kind, als wir das noch konnten.
Das Kind lebt noch ganz
in der Unmittelbarkeit der Wirklichkeit; es weiß noch nichts mit dem bloßen
Ablauf der Dinge anzufangen. Es schafft sich seine eigene Welt, sagen wir, in die es eintaucht; der Kleine scheint zu
trödeln, dabei ist er versunken in das, was ihn in diesem Augenblick zutiefst
berührt. Ein deutsch-polnischer Freund erinnert sich an ein
Zwischenraum-Erlebnis in seiner Kindheit:
„Als kleiner Junge musste
ich manchmal ein paar Kilometer in Dunkelheit zurück nach Hause
kommen. Häufig hielt ich auf dem Weg an und lauschte...
Ich fühlte mich gut eben in den Augenblicken, wo ich stand und innehielt und mich selbst vergaß... Alles wurde auf einmal so deutlich, und es war da, nur mich hat es nicht gegeben...“
Ich fühlte mich gut eben in den Augenblicken, wo ich stand und innehielt und mich selbst vergaß... Alles wurde auf einmal so deutlich, und es war da, nur mich hat es nicht gegeben...“
„Nur mich hat es nicht gegeben“:
zwischenräumliches Erleben hat
passivischen Charakter; das Ich tritt in den Hintergrund, lässt los, lässt sich
ein, wird empfänglich, porös, öffnet sich für das, was mit ihm und um es herum
geschieht; es nimmt wahr, empfindet, fühlt sein wirkliches Dasein im viel
zitierten Hier und Jetzt: nicht abgehoben meditativ-geistig, sondern geerdet sinnenhaft-leiblich.
Zwischenräumliches Erleben ist Vergegenwärtigung meines Daseins an diesem
Ort, in diesem gedehnten Augenblick wirklicher Dauer. Ich spüre mein Dasein in
der wirklichen Gegenwart. Ja, die Zeit ist wirklich: nicht nur subjektiv
gefühlt, sondern wirklich. Eine Aussage, die nicht originell oder gar
einleuchtend erscheinen mag, deren Bewusstmachung jedoch von Bedeutung für
unser Leben und unsere Erlebensfähigkeit sein kann. Das Zeit-Problem kann hier nur
angedeutet werden und möglicherweise als Impuls dienen. Es wird Zeit, dass wir der wirklichen Zeit und unserem (Er)Leben in ihr mehr Aufmerksamkeit
widmen.
Zeit ist für
uns selbstverständlich und gewohntermaßen die lineare, homogen ablaufendende
Zeit, die uns die Uhren diktieren. Die vermeintlich gemessene Zeit ist jedoch
reine Abstraktion und bezieht sich auf etwas, was es so gar nicht gibt. Die
mathematisch-physikalische Zeit ist in
keinem aktuellen Punkt einer scheinbaren Gegenwart je wirklich vorhanden. Das
erdrückende lähmende Gefühl angesichts des linearen, undifferenzierten
Zeitablaufs, das uns manchmal überkomme, sei das Resultat einer zutiefst
verinnerlichten, anerzogenen
Abstraktion, sagt Spyridon Koutroufinis.(12)
Manchmal
spüren wir die wirkliche Zeit noch, wenn wir aus dem routinierten Tagesablauf
heraustreten: im Urlaub, auf dem Lande, in der Natur: dann bemerken wir
plötzlich, dass die Zeit sich verdichtet, die Stunden voller sind, unser
Erleben intensiver als sonst... kein Wunder: wir sind näher an der Wirklichkeit
dran; mehr im ereignishaften Wirken der Natur und können die wirkliche, sich vollziehende
Zeit spüren: gedehnte Augenblicke,
heterogene Zeittropfen, die sich überlappen, miteinander verschmelzen, sich
durchdringen. Die Natur ist nicht in der Zeit, sondern die Zeit ist in der
Natur. Zeit vollzieht sich im wirklichen Geschehen, im steten Werden in den Zwischenräumen.
Schluss
Wie wir denken, so leben wir. Es
macht einen Unterschied, wie wir die Welt denken: „dinghaft“- statisch als
einen lückenlosen, kaum beeinflussbaren, quasi-mechanischen Ablauf oder „zwischenräumlich“-
dynamisch als lebendige Wirklichkeit, die sich
im Dazwischen ereignet, Veränderung zulässt, zur Zukunft hin offen ist
und neue Freiräume Chancen, Entwicklung, Möglichkeiten bereithält. Zwei unterschiedliche Sichtweisen, die
unser ganzes (Er)Leben prägen, letztlich wohl zusammen kommen müssen; ein ausgewogenes Leben
wird davon abhängen, inwieweit wir die Balance zwischen beiden herzustellen
vermögen. Das Kind wird allmählich lernen müssen, mit den Gegebenheiten und
festen Abläufen des täglichen Lebens umzugehen; wir dagegen dürfen wieder lernen,
eine sich ereignende Wirklichkeit zwischen den bloßen Abläufen in ihrer ganzen
Fülle noch einmal neu zu entdecken; uns von ihr
inspirieren, berühren, bewegen, überraschen zu lassen; Welt, Menschen, Dinge,
Zusammenhänge immer wieder neu und anders
zu sehen, zu begreifen, zuzulassen, anzuerkennen - nicht zuletzt uns
selbst.
Seien wir kühn: treten wir
ab und zu heraus aus dem routinierten Ablauf des Lebens; schaffen wir uns
Lücken im mechanischen Getriebe der Realitäten und begeben uns hinein in die
Zwischenräume - in die verborgenen überraschenden, abenteuerlichen Schauplätze der Wirklichkeit!
Maria Reinecke Berlin,
Januar 2012
Literaturhinweis
(1)
Alfred N. Whitehead, Prozess und Realität, stw
690, Frankfurt a. M. 1987
(2)
Albert Einstein und Leopold Infeld, Die
Evolution der Physik, Rowohlt 1987
(3)
Gerhard Roth, Aus Sicht des Gehirns, Suhrkamp
2003
(4)
Antonio Damasio, Descartes' Irrtum, Berlin 2006
(5)
Joseph LeDoux, Das Netz der Persönlichkeit,
Patmos, 2003
(6)
Bernhard J. Dotzler und Henning Schmidgen, Parasiten
und Sirenen - Zwischenräume als Orte der materiellen Wissensproduktion,
Bielefeld 2008
(7) Michael
Meier, Neue
Menschen, Edition Patrick Frey 2011
(8)
Dariusz Radtke und Hagen Schulz-Forberg, Forum 46, Zwischenräume
II - Text zum Interdisziplinären Salon für Europa, Berlin 2007
(9)
Peter Handke im Gespräch mit Herbert Gamper, Aber
ich lebe nur von den Zwischenräumen, Suhrkamp 1990
(10) Maria Reinecke, Leben in den
Zwischenräumen, Roman, Neuauflage Palmartpress Berlin 2013
(11) Ernst Mach, Analyse der Empfindungen, 1886
(12) Spyridon Koutroufinis, Über die Affinität
der Zeitphilosophie Henri Bergsons zum Ammonschen Verständnis von Zeiterleben, Arbeitsskript
(Datum fehlt) TU Berlin
(13) Maria
Reinecke, La Rambla - Barcelona Story, Berlin 2009
Bildnachweis:
Mollie Hosmer-Dillard, Collecting Burdock and Vetiver oder Im Werden, 2009, Öl auf Leinwand, 80 x 80
Bele Weitzmann, Begegnung, 1987, Acrylgemälde 180 x 100 cm, Amsterdam
Sandra Kühnapfel, Ohne Titel oder Zwischenräume, Foto
2008, Oslo
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