Sonntag, 26. August 2018


 

Zwischenräume 

Die verborgenen Schauplätze der Wirklichkeit

„zwischenräumlich denken und (er)leben“

Maria Reinecke 

 

(Auszug aus dem Vortrag in Dortmund: DASA - Szenografie; Zwischenräume-Kolloquium 2012)

Veröffentlichung im KLARTEXT VERLAG, Januar 2014:  

 


Teil I

Zwischenräume: Spalten, Ritzen, Lücken, Löcher, Poren, Zwischenräume überall; sie sind da, ohne eigentlich etwas zu sein; sie befinden sich zwischen den Dingen, liegen angrenzend, verbindend zwischen Festem, Greifbarem, Sichtbarem, Messbarem, doch sie selber sind flüchtig, vage, unsichtbar, undefiniert, leer, leere Räume, weiter nichts. Es geht also um nichts? Ist die Beschäftigung mit Zwischenräumen ein ähnlich absurdes Unterfangen, wie das des Architekten, der in dem humorigen Lattenzaun-Gedicht von Christian Morgenstern alle Zwischenräume herausnimmt, um aus ihnen ein großes Haus zu bauen?

    Oder: Was macht ein Rad eigentlich zum Rad?, fragt der legendäre Laotse und stellt fest: es sind die leeren Räume zwischen den Speichen, die wesentlich konstitutiv für das Rad sind; so gesehen gewinnen die Zwischenräume im Lattenzaun sogar eine gewisse Bedeutung: wird dieser doch auch erst durch die leeren Räume zwischen den Latten zu dem, was er ist. 

Bleiben wir bei dem Bild: Zwischenräume herausnehmen. Der moderne Physiker stellt  eine ähnlich merkwürdige Arbeitshypothese auf, indem er zu bedenken gibt, was passieren würde, wenn wir aus unserem Planeten alle Zwischenräume herausnähmen: es bliebe nur ein kleiner ultrakompakter Masseklumpen zurück, etwa so groß wie ein Golfball, der jedoch dieselbe Masse hätte wie die ganze Erde zuvor in Großformat. Uns selber würde es nicht viel besser ergehen, denn wir bestehen zu 99,9 % aus leeren Räumen; nähme man alle Zwischenräume aus uns heraus, würden wir im Nanometerbereich verschwinden. 

Gemeint sind hier die leeren Räume in atomaren Strukturen; und wieder sind es die leeren Räume, diesmal  zwischen Atomkern und Elektronenhülle, die die Atome erst zu dem machen, was sie sind. Ein einfaches Wasserstoffatom z.B. besteht aus einem Kern mit einem positiv geladenen Teilchen, dem Proton, das die Masse des Atoms ausmacht, und einem negativ geladenen Teilchen, dem  Elektron, das wie eine Ladungswolke um den Kern herum rast. Um die Dimensionen in einem Atom zu veranschaulichen, vergrößern wir den Atomkern gedanklich 1billionenfach auf die Größe eines Stecknadelkopfes: dann hätte das Atom die Ausdehnung eines Fußballplatzes, und  der ganze Raum zwischen dem Kern und der Elektronenhülle wäre leer. Wobei leer nicht nichts ist: elektromagnetische Kräfte und die starke und schwache Kernkraft sorgen heftigst dafür, dass das atomare Gefüge nicht kollabiert, die subatomaren Teilchen ineinander umgewandelt werden können und das Vakuum zwischen Kern und Elektronenhülle erhalten und elektrisch neutral bleibt. Ohne diese physikalischen Grundkräfte, zu denen auch die Gravitation gehört, würden die atomaren Strukturen  der Erde  tatsächlich in sich zusammenfallen, und es blieben nur die Atomkerne zurück, also reine Masse, ein Klumpen so groß wie ein Golfball. 

Kein Zweifel: Die Zwischenräume und was in ihnen und um sie herum geschieht sind offenbar von grundlegender Wichtigkeit und Voraussetzung für alles Bestehende. Ohne sie gäbe es keinerlei Aktivität,  kein Werden, kein Wachsen, keine Bewegung, kein Leben. Es gäbe uns nicht, die Natur nicht, die Welt nicht, das Universum nicht, denn auch das besteht zu 75 % aus leerem Raum, wobei  auch hier leer nicht einfach nichts ist: Gravitationsfelder, elektromagnetische Felder und Wellen,  Energieströme  unaufhörlicher Aktivität durchziehen das All.





Mollie Hosmer-Dillard, Collecting Burdock and Vetiver oder Im Werden
2009, Öl auf Leinwand 80 x 100 cm.*)



Die modernen interdisziplinären Wissenschaften zeigen uns insgesamt eine im Innersten 
durch und durch poröse, filigranst miteinander verbundene, in ständiger Bewegung und Veränderung befindliche Welt und  verweisen auf  einen umfassenden interaktiven Wirkzusammenhang; auf ein grenzenloses, wechselseitig sich bewirkendes Energie-Beziehungsgeflecht, in dem kein Ding, kein Geschehnis allein-isoliert,  ohne Rückwirkung auf das Ganze daherkommt.

Einst wurden das „ewige“ Eis in der Antarktis und  das „ewige“ Gebirgsgestein als tote Materie abgetan; heute wissen wir, dass im Innern scheinbar unveränderlicher Materie höchst beunruhigende Prozesse ablaufen, sichtbar und unsichtbar, in und zwischen kleinsten Zellstrukturen bis in die molekularen und atomaren Bereiche  hinein, mit unabsehbaren Folgen und Auswirkungen auf die ganze Erde.

Der englische Mathematiker, Naturwissenschaftler und Philosoph Alfred N. Whitehead (1861-1947), der erst spät aufgrund seiner naturwissenschaftlichen Arbeiten zum Philosophen wurde,  hat die Wirkzusammenhänge zwischen anorganischen, organischen und im weitesten Sinne biologischen Strukturen als solche gesehen und sie als einen umfassenden dynamischen, organismischen Prozess der Wirklichkeit interpretiert. Whitehead ist der erste, der die leeren Räume in lebenden Strukturen als Zwischenräume (interstices) bezeichnet und ihnen eine grundlegende Bedeutung beimisst, indem er sie mit der physikalischen Feldtheorie*) und den Wechselwirkungen des elektromagnetischen Feldes in leeren Räumen in Zusammenhang bringt. 
*)Physikalische Feldtheorien bilden den mathematischen Unterbau zur Beschreibung physikalischer  Effekte, die durch Kräfte und Wechselwirkungen hervorgerufen werden.  

Bereits 1929 schreibt Whitehead in seinem Hauptwerk Prozess und Realität den bislang kaum beachteten Satz:  „Das Leben liegt in den Zwischenräumen jeder lebenden Zelle und in den Zwischenräumen des Gehirns verborgen“(1), und er meint das nicht metaphorisch, sondern wirklich.
     
Whitehead sieht die einzelne lebende Zelle als ein komplexes physikalisches Feld, das durch Moleküle, Atome und Elektronen besetzt ist. Zwischen den besetzten Raum-Zeit-Stellen befinden sich leere Räume voller virtueller Energie; denn  leer bedeutet nur: frei von Elektronen, Protonen oder irgendeiner Form elektrischer Ladung. Damit die virtuellen Energieströme in dem physikalischen Feld des leeren Raumes zu wirklichen Geschehnissen werden können, bedarf es der  Einflüsse angrenzender besetzter Räume (Moleküle, Atome, Elektronen), denn physikalische Felder werden erst verständlich durch die Einflüsse, die auf sie wirken. Je nach  Resonanz und Einflüssen aus der Umgebung also gehen die virtuellen Energieströme in einen spontanen Konkretisierungsprozess ein oder nicht. Das Leben wirkt dabei wie ein Katalysator; es wird zu  einem Charakteristikum des leeren Raumes mit der kreativen Funktion, Neuheit zu erzeugen; aus Potenzialität Wirklichkeit entstehen zu lassen. In den Zwischenräumen finden die eigentlichen  Prozesse des Lebens statt - so Whitehead.  Kühne Gedanken.

     Kühnheit ist bei der Erforschung von Zwischenräumen in der Tat erforderlich - darauf machen auch Albert Einstein und Leopold Infeld in ihrem Buch Die Evolution der Physik aufmerksam; sie betonen darin:  angesichts der Erkenntnisse der modernen Physik, in der es nicht mehr um das Verhalten von Körpern gehe, sondern um das zwischen ihnen Liegende, bedürfe es großer gedanklicher Kühnheit anzuerkennen, dass „das Verhalten des Feldes (im Dazwischen, M.R.) für die Ordnung und das Verständnis der Vorgänge  maßgebend sein könnte“.(2) 
An Kühnheit scheint es im tendenziell positivistischen Wissenschaftsbetrieb eher zu mangeln. Was genau in den leeren Zwischenräumen lebender Organismen geschieht, ist noch immer weitgehend unerforscht. Nur zögerlich werden Vakuumstrukturen in ihrer grundlegenden biologischen Bedeutung überhaupt gesehen und als eigentliche Basis für die interdisziplinäre Forschung der Biophysik anerkannt. 


Der Mensch ist ein Zwischenwesen




Bele Weitzmann, Begegnung, 1987, Amsterdam, Acrylgemälde 180 x 100 cm.*)


Wir können sagen: Der Mensch ist ein Zwischenwesen; er steht zwischen Makro- und Mikrokosmos und  bildet eine Art Schnittstelle,  biologische Datenübertragungsgrenze zwischen Materie und Geist/Bewusstsein.  Unsere Körperzellen bestehen letztlich aus winzigen Elementen unbelebter Materie; eine Million Trillionen Atome tummeln sich allein in einer Fingerspitze; in unserem Körper findet ein ständiger Molekül- und Zellaustausch statt: zehn Millionen Zellen pro Sekunde vergehen und entstehen neu. Zoomen wir in unseren Körper hinein, durch die poröse Haut hindurch, sehen wir unseren Organismus als ein pulsierendes, feinst zusammenhängendes, zusammenwirkendes  System; die Organe funktionieren im Zusammenspiel von Gewebe; das Gewebe besteht aus Zellzusammenhängen; die einzelnen Zellen aus Organellen, die wiederum werden durch das Zusammenwirken von großen und kleinen Molekülen organisiert; und wenn wir weiter zoomen, entdecken wir in den Molekülen Atome, und  in der Mitte der Atome die Atomkerne, die sich immer weiter in subatomare Einheiten verflüchtigen. Die Frage also: inwieweit und wie mikrokosmische Prozesse physisch, psychisch und mental auf uns einwirken, ist  durchaus von Bedeutung für uns; ebenso makrokosmische Prozesse: welche Wirkungen haben all die Schwingungen, Wellen, Frequenzen, elektromagnetischen Kräfte, Energie- und Teilchenströme, Strahlungen, die uns von allen Seiten ständig „bombardieren“?  

Ein Kaleidoskop an 'zwischenräumlichen' Fragen taucht auf, z.B.: Was hat es auf sich mit der Wetterfühligkeit und den körpereigenen elektromagnetischen Feldern und den biologischen Wirkungen elektromagnetischer Felder? Haben unsere heimlichen Gedanken und Wünsche tatsächlich (elektrische) Wirkung auf Personen und Situationen? Was hat es auf sich mit den spezifischen Schwingungsspektren einzelner Organe und Zellen und den emotionalen Chemikalien in unserem Organismus? Können wir die Aura eines Menschen wirklich sehen und fühlen? Gibt es vierzigtausend echte Gehirnzellen in unserem Herzen?... Und in Zusammenhang mit dem Szenografie-Kolloquium über den Raum kann gefragt werden: Wie entsteht eigentlich das Atmosphärische, wenn Menschen und Dinge  in einer gemeinsamen ästhetischen Wirklichkeit verbunden sind und das je subjektive Empfinden nicht von der zufälligen eigenen Befindlichkeit abhängt, sondern von dem objektiv im Raum Da- seienden erfasst wird? ... Fragen, die von Einzeldisziplinen wissenschaftlicher Grenzgebiete oder/und esoterischen Kreisen intensiv erforscht werden. Eine Flut von Informationen überschwemmt den medialen Markt, per Mausklick abrufbar. Für den interessierten Laien ist es oft nicht leicht, zwischen fundiertem Bildungsangebot und (ideologisch) vereinnahmendem Material oder  möglichem Humbug  zu unterscheiden.

So bleiben die Zwischenräume weitgehend Rätsel und Geheimnis. Der Biologe und  Hirnforscher Gerhard Roth z.B. räumt ein, dass man zwar schon „ziemlich gut die Vorgänge auf der zellulären und molekularen Ebene“ der aktiven Gehirnzentren verstünde, dass „das größte Rätsel (ist) aber das Geschehen dazwischen“ sei.(3) Und für den Hirnforscher Antonio Damasio liegt das „Geheimnis“ des Bewusstseins gerade in der Interaktion neuronaler und chemischer Signale, die sich zwischen den Zellen und den Hirnregionen abspielen.(4) Auch wenn der Neurowissenschaftler Joseph LeDoux provokant konstatiert: „Wir sind unsere Synapsen“, was soviel heißt wie: „Wir sind die Zwischenräume“ - denn die Synapsen sind die Zwischenräume zwischen den Hirnzellen, durch die diese Zellen kommunizieren - wissen wir noch lange nicht, was genau in den Synapsen geschieht, damit wir uns als Selbst empfinden können. Das Rätsel bleibt also.(5)
 
 Zwischenräume sind mehr als nur Metapher

Sandra Kühnapfel, Ohne Titel oder Zwischenräume, Foto 2008, Oslo.  *)



Als Metapher sind die Zwischenräume längst im XXI. Jahrhundert angekommen; sie sind geradezu zur Signatur unserer Zeit geworden. Das Hybride, Interferierende, Intermediäre findet sich in den verschiedensten Kulturbereichen. Zwischenräume stehen für Vages, Verschwommenes, Grenzüberschreitendes, Entgrenzendes ebenso wie für Unergründliches, Unbekanntes, Unheimliches, Verführerisches, Ansteckendes, Gefährliches - gemäß Bernhard Dotzler und Henning Schmidgen, Humboldt Universität Berlin.(6)  Jugendliche nutzen die neuen digitalen Zwischenwelten als Anreiz für ihre schrill-schillernden, kontrastierenden Moderichtungen, Stile und Lebensentwürfe, „um sich selbst zu inszenieren, um das eigene Ich zu dehnen", schreibt Michael Meier in seinem Buch Neue Menschen.(7)  Zwischenräume sind die allgemein erklärten    kreativen Freiräume „für neue Ideen und Bedeutungen in den Künsten, in der Architektur, Literatur, Musik, Film, Tanz ebenso wie in Psychotherapie und der spirituellen Lebensberatung“, sagen Dariusz Radtke und Hagen Schulz-Forberg, Forum 46.(8)
    Die Zwischenräume sind in diesem Jahr auch Anlass für unser Zusammentreffen hier in Dortmund und stehen als Metapher für Wandel und Übergang. Zwischenräumlich gesehen, sind die Zwischenräume mehr als Metapher; sie stehen nicht bloß für Wandel und Übergang: sie sind die wirklichen Ereignisräume, in denen Wandel und Übergang sich überhaupt vollziehen können.




Teil II


Als ich 1993 die Zwischenräume in A. N. Whiteheads Prozessphilosophie (Prozess und Realität, a.a.O. 1) als konkrete „Wirk-Räume“ entdeckte und  diesen Gedanken literarisch umzusetzen versuchte, fühlte ich mich ziemlich allein mit diesen Zwischenräumen. Kein Mensch interessierte sich damals dafür. Ich war aber gar nicht so alleine: kurz  zuvor hatte der Suhrkampverlag ein Büchlein herausgegeben mit dem  Titel: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen:  ein Zitat von Peter Handke im Gespräch mit Herbert Gamper. (9)
 
 Handke sieht die Zwischenräume auch als Metapher und Ausgangssituation für den kreativen Akt, lässt aber darüber hinaus etwas Zwischenräumlich- Wirkliches in ihnen anklingen.   Er spricht von der inspirierenden anfänglichen Leere, einer fruchtbaren Leere, und von einer Schwingung in dieser Leere, die das Erzählen überhaupt erst möglich macht.  Die Zwischenräume  als eine Art „Wert-Vakuum“, ein Auftun der Leere z.B. inmitten von Menschenmassen; er beschreibt das so:

"...Es ging mir einmal so auf dem Markusplatz in Venedig: Wenn man da geradeaus vor sich hinschaut... wird man ja taumelig vor Körpern oder vor Ununterscheidbarem... Und mit dem Blick auf den Boden, mit den Füßen der Gehenden und Stehenden, wurde mir auf einmal bewusst, wie viel Leere da noch übrig ist... soviel Platz... und aus dem seltsam leeren Boden entstanden dann die Gestalten erst... Und es ist kein größerer Moment an Zuneigung vorstellbar als in diesem Aufsteigen der Leere..." (a.a.O.)


   Und Wir? Was machen wir mit den Zwischenräumen? Wir benötigen auch Kühnheit, wenn wir die Zwischenräume ernst nehmen und uns in sie hineinbegeben wollen. Die Vorstellung, dass nicht die Dinge, sondern das dazwischen sich Ereignende wichtig sein soll, ist uns fremd. Wie wir denken, so leben wir. Wir sind gewohnt, „dinghaft“ zu denken, realistisch eben (res, lat. - das Ding, die Sache); wir definieren Realität  selbstverständlich als etwas, was wir an festen, eindeutig lokalisierbaren, quantifizierbaren Körpern, Dingen, Entitäten vorfinden und richten unser Leben darin ein. Die grundlegende Subjekt-Objekt-Struktur unserer Sprache, die unser ganzes Denken prägt, legt eine solche Vorstellung nahe. Der Satz: „Ich sehe den Baum“ drückt von vornherein eine statische einseitige Beziehung zwischen  mir und dem Baum aus: Ich als aktives, sehendes Subjekt  stehe dem Baum als einem rein passiven Objekt getrennt, unabhängig, distanziert  gegenüber. Er ist für mich  eine Sache, die weiter nichts mit mir zu tun hat; die ich höchstens für meine Zwecke gebrauchen kann. 
    Zwischenräumlich gesehen jedoch, wird aus der statischen Subjekt-Objekt-Beziehung ein dynamischer symmetrischer Wirkzusammenhang zwischen mir und dem Baum. Der Baum bleibt dabei nicht passives Objekt, sondern bietet sich aktivisch meinem Blick dar, zeigt sich mir in seiner ganzen Fülle;  er sendet seine spezifischen Signale aus, die auf meinen Wahrnehmungsapparat wirken und wesentlich dazu beitragen, dass und wie ich ihn wahrnehme; und diese Wahrnehmung hinterlässt Spuren in meinem System, verändert mich. Was sich zwischen mir und dem Baum an diesem Ort, in diesem Augenblick  vollzieht, ist ein Stück Wirklichkeit, verwoben, eingebunden in ein grenzenloses Netz von unzähligen anderen gleichzeitigen Geschehnissen in nächster Nähe und weitester Entfernung: da ist der warme Lichteinfall  der Sonne, das Summen der Insekten, das Duften der Blüten, die Nähe eines Waldes, Autobahngeräusche  im Hintergrund, aufkommende Wolken, der sich verdunkelnde  Himmel usw.: Schwingungen, Wellen, Frequenzen, Energie-Strömungen vielfältigster Art hüllen mich und den Baum ein, nehmen uns hinein in einen umfassenden Wirk-Zusammenhang, in dem ich als Subjekt  nicht mehr die Hauptrolle spiele.

Textstelle aus Leben in den Zwischenräumen, Roman, M.R.(10)


 „Ihr Tod bedeutete für sie auf jeden Fall den Verlust all dessen, was war, den Verlust der Wirklichkeit. Unausdenkbar, grauenvoll. Denn die Wirklichkeit umfasste alles, was sie liebte, alles, was für sie einen Wert  hatte; die Wirklichkeit war das kostbare Datum, das sie in jedem Augenblick durchdrang, durch das sie mit der Welt verbunden war, das ihre Empfindungen schuf; und  ihre Empfindungen waren, was sie waren, damit sie sein konnte, was sie war. Ja, sie liebte die Wirklichkeit.“ (a.a.O.)


   Wirklichkeit beinhaltet das aktivische Wort „wirken“; Wirklichkeit wirkt, bewirkt,  zeigt Wirkung, ereignet sich im Dazwischen, zwischen mir und den Dingen, zwischen mir und den anderen, zwischen mir und der Welt. Die Wirklichkeit ist mehr als bloße Realität; sie hält eine weitere Dimension des Erlebens bereit; zielt auf Intensität, Qualität. 

Leben heißt erleben. Wir haben weitgehend verlernt, das Geschehen im Dazwischen als Wirklichkeit wahrzunehmen und in dieser Wirklichkeit zu leben, sie zu erleben; wir funktionieren, müssen funktionieren. Die Realitäten des Lebens müssen bewältigt werden, beruflich und privat, jeden Tag neu, mit lückenlos aneinandergereihten Terminen, Pflichten, Verpflichtungen, die Tyrannei eines gleichgültig-erbarmungslos vorrückenden Uhrzeigers im Nacken. Das Zeitfenster für Freiräume wird immer enger; haben wir frei, geht es wie am Schnürchen weiter; wir rennen von event zu event, vom Fitness zum  Brunch, von date zu date, bis wir irgendwann nicht mehr können. Der Zusammenhang ist verloren gegangen, manchmal auch der Sinn. Wir spüren uns und den anderen schon lange nicht mehr, haben kaum Kraft zum Atmen. Das Leben hat plötzlich seinen Geschmack verloren, ist fade geworden. Dann möchten wir das Rad anhalten, den mechanischen Ablauf der Dinge unterbrechen;  möchten eintauchen in den Augenblick, der immerzu vor uns wie nichts zerrinnt, möchten eine Weile verharren, uns und das Leben wieder richtig spüren, schmecken,  wie einst als Kind, als wir das noch konnten.

Das Kind lebt noch ganz in der Unmittelbarkeit der Wirklichkeit; es weiß noch nichts mit dem bloßen Ablauf der Dinge anzufangen. Es schafft sich seine eigene Welt, sagen wir,  in die es eintaucht; der Kleine scheint zu trödeln, dabei ist er versunken in das, was ihn in diesem Augenblick zutiefst berührt. Ein deutsch-polnischer Freund erinnert sich an ein Zwischenraum-Erlebnis in seiner Kindheit:

„Als kleiner Junge musste ich manchmal ein paar Kilometer in Dunkelheit zurück nach Hause kommen. Häufig hielt ich auf dem Weg an und lauschte...
Ich fühlte mich gut eben in den Augenblicken, wo ich stand und innehielt und mich selbst vergaß... Alles wurde auf einmal so deutlich, und es war da, nur mich hat es nicht gegeben...“

   „Nur mich hat es nicht gegeben“: zwischenräumliches  Erleben hat passivischen Charakter; das Ich tritt in den Hintergrund, lässt los, lässt sich ein, wird empfänglich, porös, öffnet sich für das, was mit ihm und um es herum geschieht; es nimmt wahr, empfindet, fühlt sein wirkliches Dasein im viel zitierten Hier und Jetzt: nicht abgehoben meditativ-geistig, sondern geerdet sinnenhaft-leiblich.

Zwischenräumliches Erleben ist Vergegenwärtigung meines Daseins an diesem Ort, in diesem gedehnten Augenblick wirklicher Dauer. Ich spüre mein Dasein in der wirklichen Gegenwart. Ja, die Zeit ist wirklich: nicht nur subjektiv gefühlt, sondern wirklich.  Eine Aussage, die nicht originell oder gar einleuchtend erscheinen mag, deren Bewusstmachung jedoch von Bedeutung für unser Leben und unsere Erlebensfähigkeit sein kann. Das  Zeit-Problem kann hier nur angedeutet werden und möglicherweise als Impuls dienen. Es wird Zeit, dass wir der wirklichen  Zeit und unserem  (Er)Leben in ihr mehr Aufmerksamkeit widmen.


Zeit ist für uns selbstverständlich und gewohntermaßen die lineare, homogen ablaufendende Zeit, die uns die Uhren diktieren. Die vermeintlich gemessene Zeit ist jedoch reine Abstraktion und bezieht sich auf etwas, was es so gar nicht gibt. Die mathematisch-physikalische  Zeit ist in keinem aktuellen Punkt einer scheinbaren Gegenwart je wirklich vorhanden. Das erdrückende lähmende Gefühl angesichts des linearen, undifferenzierten Zeitablaufs, das uns manchmal überkomme, sei das Resultat einer zutiefst verinnerlichten, anerzogenen  Abstraktion, sagt Spyridon Koutroufinis.(12)
Manchmal spüren wir die wirkliche Zeit noch, wenn wir aus dem routinierten Tagesablauf heraustreten: im Urlaub, auf dem Lande, in der Natur: dann bemerken wir plötzlich, dass die Zeit sich verdichtet, die Stunden voller sind, unser Erleben intensiver als sonst... kein Wunder: wir sind näher an der Wirklichkeit dran; mehr im ereignishaften Wirken der Natur und können die wirkliche, sich vollziehende Zeit  spüren: gedehnte Augenblicke, heterogene Zeittropfen, die sich überlappen, miteinander verschmelzen, sich durchdringen. Die Natur ist nicht in der Zeit, sondern die Zeit ist in der Natur. Zeit vollzieht sich im wirklichen Geschehen, im steten Werden  in den Zwischenräumen.


 Schluss  

Wie wir denken, so leben wir. Es macht einen Unterschied, wie wir die Welt denken: „dinghaft“- statisch als einen lückenlosen, kaum beeinflussbaren, quasi-mechanischen Ablauf   oder „zwischenräumlich“- dynamisch als lebendige Wirklichkeit, die sich  im Dazwischen ereignet, Veränderung zulässt, zur Zukunft hin offen ist und neue Freiräume Chancen, Entwicklung, Möglichkeiten  bereithält.  Zwei unterschiedliche Sichtweisen, die unser ganzes (Er)Leben prägen, letztlich wohl zusammen kommen müssen; ein ausgewogenes Leben wird davon abhängen, inwieweit wir die Balance zwischen beiden herzustellen vermögen. Das Kind wird allmählich lernen müssen, mit den Gegebenheiten und festen Abläufen des täglichen Lebens umzugehen; wir dagegen dürfen wieder lernen, eine sich ereignende Wirklichkeit zwischen den bloßen Abläufen in ihrer ganzen Fülle noch einmal neu zu entdecken; uns von ihr  inspirieren, berühren, bewegen, überraschen  zu lassen; Welt, Menschen, Dinge, Zusammenhänge immer wieder neu und anders   zu sehen, zu begreifen, zuzulassen, anzuerkennen - nicht zuletzt uns selbst.

Seien wir kühn: treten wir ab und zu heraus aus dem routinierten Ablauf des Lebens; schaffen wir uns Lücken im mechanischen Getriebe der Realitäten und begeben uns hinein in die Zwischenräume - in die verborgenen überraschenden, abenteuerlichen Schauplätze der Wirklichkeit!

Maria Reinecke   Berlin,  Januar 2012

 


      Literaturhinweis


(1)     Alfred N. Whitehead, Prozess und Realität, stw 690, Frankfurt a. M. 1987
(2)     Albert Einstein und Leopold Infeld, Die Evolution der Physik, Rowohlt 1987
(3)     Gerhard Roth, Aus Sicht des Gehirns, Suhrkamp 2003
(4)     Antonio Damasio, Descartes' Irrtum, Berlin 2006
(5)     Joseph LeDoux, Das Netz der Persönlichkeit, Patmos, 2003
(6)     Bernhard J. Dotzler und Henning Schmidgen, Parasiten und Sirenen - Zwischenräume als Orte der materiellen Wissensproduktion, Bielefeld 2008
(7)     Michael Meier,  Neue Menschen, Edition Patrick Frey 2011
(8)     Dariusz Radtke und Hagen Schulz-Forberg, Forum 46, Zwischenräume II - Text zum Interdisziplinären Salon für Europa, Berlin 2007
(9)     Peter Handke im Gespräch mit Herbert Gamper, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen, Suhrkamp 1990
(10)   Maria Reinecke, Leben in den Zwischenräumen, Roman, Neuauflage Palmartpress Berlin 2013
(11)   Ernst Mach,  Analyse der Empfindungen, 1886
(12)   Spyridon Koutroufinis, Über die Affinität der Zeitphilosophie Henri Bergsons zum Ammonschen Verständnis von Zeiterleben, Arbeitsskript (Datum fehlt)  TU Berlin
(13)   Maria Reinecke, La Rambla - Barcelona Story, Berlin 2009


   Bildnachweis:

      Mollie Hosmer-Dillard, Collecting Burdock and Vetiver oder Im Werden, 2009, Öl auf Leinwand, 80 x 80

      Bele Weitzmann, Begegnung, 1987, Acrylgemälde 180 x 100 cm, Amsterdam

      Sandra Kühnapfel, Ohne Titel oder Zwischenräume, Foto 2008, Oslo

* Text und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt